„Das neue Herz Europas“ wird das Projekt Stuttgart21 mit dem geplanten unterirdischen Stuttgarter Durchgangsbahnhof und der Neubaustrecke Stuttgart – Ulm auf der offiziellen Website des Projekts genannt. Stuttgart selbst nennt das Projekt eine große Chance für die Stadt, da oberirdisch Boden für neue Stadtquartiere frei wird. Stuttgart21 weckt die Fantasie der Visionäre und Widerstand zugleich. Bringt es Vorteile? Oder doch mehr Nachteile? Ist es demokratisch legitimiert? Oder vielleicht doch nicht so ganz? 20.000 Menschen trafen sich jüngst zum Protest. Darf (soll) Stadtplanung so etwas ignorieren?
Widerstand gegen Stuttgart21 – Angst vor der Innovation?
Als 1835 die erste Eisenbahn zwischen Nürnberg und Fürth fuhr, weckte das nicht nur Begeisterung. Einige Mediziner prognostizierten Hirnkrankheiten oder entzündete Lungen der Reisenden, die mit bis zu vierzig (!) Stundenkilometern durch die Gegend „rasten“. Vergiftungen durch den Qualm der Lokomotiven gehörten ebenso zu den vorausgesagten Folgen des Eisenbahnverkehrs. Diejenigen, die an die Zukunft des neuen Verkehrsmittels glaubten, hat das alles nicht sonderlich beeindruckt. Und es war wohl auch gut so. Beim Projekt Stuttgart21 geht es schon wiederum um die Eisenbahn. Hier geht es um einen Kopfbahnhof, der einem modernen unterirdischen Durchgangsbahnhof weichen soll. Es geht um eine neue Bahnstrecke und um etwa einhundert Hektar Fläche, die durch den neuen Bahnhof oberirdisch frei werden sollen und auf denen die Stadt Häuser, Arbeitsplätze, Parkareale und andere Gründflächen errichten möchte. Da könnte manch ein Befürworter von Stuttgart21 durchaus auf den Gedanken kommen, der Widerstand gegen das Projekt sei der der Ängstlichen, die man einfach durch Taten überzeugen muss. Das würde in diesem Fall bedeuten: bauen und warten, bis die Realität die Zauderer überzeugt.
Der Streit der Experten
Vielleicht sprechen aber doch auch einige gute Gründe gegen „Stuttgart21“? Bahnchef Grube musste den Preis fürs Projekt schließlich erst Ende 2009 um etwa eine Milliarde Euro auf 4,08 Milliarden Euro nach oben korrigieren. Ein jüngst veröffentlichtes und vom Umweltbundesamt in Auftrag gegebenes Gutachten, von dem sich das Amt selbst inzwischen allerdings ein gutes Stück distanziert hat, verweist auf mögliche Engpässe im geplanten neuen Bahnhof, der statt bisher siebzehn nur noch acht Gleise haben wird. Zugleich ergäbe sich durch die Kosten fürs Gesamtprojekt ein „Kannibalisierungseffekt“. Das bedeutet aus Sicht des Gutachtens, dass Gelder anderswo – etwa beim Güterverkehr – gespart werden müssen. Ähnliche Argumente bringt beispielsweise der BUND e.V. (Regionalgeschäftsstelle Stuttgart) auf der Seite Kopfbahnhof-21.de. Christoph Ingenhoven, Architekt des Projekts Stuttgart21, spricht dagegen angesichts des Gutachtens von „Unwissenheit“ und „Verweigerung“. Der Streit um das Großprojekt ist auch ein Streit der Experten.
Der Streit der Demokraten
Zugleich ist dieser Streit ein Streit der Demokraten. Während die einen die demokratische Legitimierung des Projekts durch die Organe der parlamentarischen Demokratie betonen, verweisen andere auf die Vorbehalte der Bevölkerung, die sich in Umfragen äußern. Tatsächlich überwogen bei einer Bürgerumfrage 2009 sowie bei einer Umfrage des Marktforschungsinstituts Emnid die Stimmen gegen das Projekt deutlich. Allerdings bildeten zugleich die Befürworter bei beiden Umfragen keine völlig vernachzulässigende Größe. Bei einer direktdemokratischen Abstimmung hätte Stuttgart21 vermutlich dennoch keine große Chance. Für manch einen ist das ein Beleg dafür, dass es mit einer wirklichen demokratischen Legitimierung des Projekts nicht so weit her ist. Ist Stuttgart21 nun ein Segen für Stuttgarts Hauptstadt oder wird das Projekt zum Fluch? Relativ verlässliche Antworten gibt es wohl erst, falls das Projekt realisiert wird, sobald das Projekt realisiert worden ist. Und es wird realisiert, sagt Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster. Für ein AUS sei es viel zu spät. Andere bestreiten auch das. Letzten Freitag begann der Abriss am Nordflügel des bisherigen Stuttgarter Kopfbahnhofs. Die einen hat’s gefreut. Die anderen eher nicht.